SLUT: "ALIENATION"
Chris Neuburger sagte einmal, über Musik zu reden sei ähnlich erfolgversprechend wie der Versuch, zu Architektur zu tanzen. Man könnte ergänzen: Über Alienation zu reden, gleicht dem Ansinnen, Zeitgeist mit dem Strohhalm zu trinken.
Das neue Album von Slut kommt mit Opus-Magnum-Aura daher. Viele Autoren haben das Buch, bei manchen Regisseuren gibt es den Film. Slut haben noch nie in der zwanzigjährigen Bandgeschichte Mist produziert. Im Gegenteil arbeiten sie mit einer souveränen Professionalität, die sie zu einem beinahe singulären Phänomen im deutschen-aber-englisch-singenden Alternative Rock machen. Aber mit Alienation ist es Slut gelungen, noch einmal über sich hinauszuwachsen. Sowohl musikalisch als auch textlich legt das Album einen Finger auf den Nerv der Zeit.
Alienation“, also Entfremdung, entsteht auf zwei Arten. Entweder, indem man krampfhaft am Bekannten festhält, während sich die Außenwelt in Bewegung befindet. Oder indem man beim Versuch, durch notorische Selbsterfindung up to date zu bleiben, den Boden unter den Füßen verliert. Wie also soll es gelingen, sich in einer Zeit, die ständigen Aufbruch verlangt, selbst treu zu bleiben?
Slut geben die Antwort schon durch ihre Werkgeschichte. Die Quadratur des Authentizitäts-Kreises glückt ihnen, indem sie Erprobtes und Gekonntes immer wieder als Ausgangspunkt für Grenzüberschreitungen nutzen. Neben und zwischen den Platten interpretieren sie die Dreigroschenoper neu oder gehen mit mir und meinem Roman „Corpus Delicti“ auf Schallnovellentour.
Es gibt viele Arten des Älterwerdens, und die meisten sind scheiße. Die Kräfte schrumpfen, die Neurosen blühen. Jede getroffene Entscheidung ein Massaker an ungenutzten Möglichkeiten. Mit Alienation führen Slut vor, dass echte Reifeprozesse mit einem Anwachsen von Vitalität zu tun haben. Alienation ist ein Buch mit vielen Kapiteln, die alle davon erzählen, wie man auf der Reise durchs 21. Jahrhundert und durch die eigene Biographie bei Kräften, bei Verstand und bei sich selbst bleiben kann. In dieser Musik fühlt man sich zu Hause, ohne den Geruch ungelüfteter Sofakissen ertragen zu müssen. Also, bitte: Kaufen, staunen, genießen. (Text: Juli Zeh)