Eine blassblaue Frauenschrift (1936)
von Franz Werfel (1890-1045)
Täglich begibt sich Leonidas von der Hietzinger Villa aus zum Minoritenplatz. Dort ist er Sektionschef im Ministerium für Kultus und Unterricht. Wie viele gesunde, wohlgestaltete, ja schöne Männer, die es im Leben zu einer hohen Stellung gebracht haben, neigt er dazu, sich in den ersten Morgenstunden ausnehmend zufrieden zu fühlen und dem gewundenen Laufe des Lebens rückhaltlos zuzustimmen.
Leonidas und seinesgleichen hatten das Regieren gelernt wie Musiker den Kontrapunkt lernen in jahrelang unablässiger Übung. Sie besaßen ein nervöses Fingerspitzengefühl für tausend Nuancen des Verwaltens und Entscheidens.
Heute aber ist Leonidas wie betäubt. Nach einer Ewigkeit von achtzehn Jahren hatte den allseits Gesicherten die Wahrheit eingeholt. Es gab keinen Ausweg mehr für ihn. Er konnte sich der Wahrheit , die er in einer Minute der Schwäche eingelassen hatte, nicht mehr entziehen. Nun war die Welt für ihn von Grund auf verwandelt, und er für die Welt.
Lesung mit Chris Pichler
Einführende Worte von Klaus Hartmann